Mariangela Coluccia

Verloren

 

 

Ich kann nicht genau sagen, wann ich mich verloren habe. Zwischen Alltag und Tagträumen muss ich wohl falsch abgebogen sein. Aber wer kann das schon mit Gewissheit sagen?
Während im Alltag alles anstrengender wurde, flüchtete ich mich in die Fantasiewelt. Dort war vieles schöner. Naja, eigentlich war alles viel schöner. Ich hing oft dem Was wäre, wenn? nach. Was wäre, wenn ich meinem ersten festen Freund in der Schule nicht den Laufpass gegeben hätte? Oder was wäre, wenn ich meinen Kollegen, nach einer Verabredung, doch geküsst hätte? Wäre ich jetzt in einer festen Partnerschaft oder womöglich verheiratet? Hätte ich Kinder? Und wann genau, wurden all diese Dinge wichtig für mich? All diese Fragen beschäftigten mich sehr, doch Antworten konnte ich mir selbstverständlich keine geben. Wer kann schon sagen, wohin uns unser Lebensweg durch unsere Entscheidungen führt?
In meiner Fantasiewelt war ich verheiratet. Mein Mann wechselte dort sein Erscheinungsbild immer nach der Person, in die ich derzeit in der realen Welt verliebt war. Es waren nicht viele, denn ich verliebte mich nicht oft. Mein Fantasiemann und ich waren immer glücklich. Dort lebten wir in einem großen Haus mit Garten und hatten Kinder. Wohingegen ich im Alltag ohne feste Partnerschaft, ohne jegliche Beziehung, in einem Zwei-Zimmer-Apartment lebte und einen miesen und schlechtbezahlten Job ausübte. Mein Chef war auch nur der Mist, der in die Kloake gespült wurde. Und dies ist noch freundlich ausgedrückt. Er war Chef einer kleinen Versicherungsfirma. Versteckt in einer Gasse in der Stadt. Viele Kunden gehen da nicht hin, woran das wohl liegen mag? Mir fallen sofort dutzende Gründe ein. Aber was wäre, wenn ich den gut bezahlten Job in der großen schicken Firma angenommen hätte, den mir die junge, nette und gutaussehende Chefin anbot? Ich lehnte ihn ab, weil ich mir mehr erhoffte und somit musste ich am Ende das Angebot des Kloakenmonsters annehmen, um nicht völlig mittellos dazustehen. Pech, würde ich sagen.
Mit meiner Familie telefonierte ich einmal die Woche. Wir lebten nicht in derselben Stadt und ich fuhr nur an Weihnachten zu ihnen. Ich hatte nur wenige Freunde, aber die haben mich nie verstanden. Sie hatten alle ein großartiges Leben, also log ich, um besser dazustehen und dazuzugehören. Ich log über meinen Job und über mein Apartment. Sie glaubten, ich hätte eine Managerposition in einer großen Firma und dass mein Apartment wunderschön wäre. Dass mein Vermieter allerdings ein alter Lüstling war, der schon beinahe in meinen Ausschnitt sabberte, wenn er mich sah, behielt ich für mich. Ich erwähnte auch nicht die Baumängel und die schlechte Gegend, in der sich das Apartment befand. Wenn sich die Clique traf, erfand ich Ausreden, weshalb ein Treffen bei mir nicht möglich war. Meine Freunde wussten wenig von mir und hielten mich für seltsam, deshalb hakten sie nie nach und nahmen meine Ausreden einfach so hin. Natürlich wussten sie, dass es nur Ausreden waren. Wie gesagt, sie verstanden mich nicht und waren keine Unterstützung in meinem Leben. Wer weiß, warum ich meine Zeit mit ihnen verschwendete.
Ganz oft wollte ich allem entfliehen und weglaufen, doch es hielt mich immer etwas zurück. Ich wollte so viel und besaß doch nichts. Was war schiefgegangen?
Und so schleppte ich mich Tag um Tag, immer wartend auf das Wochenende, um mich einzuschließen und meiner Fantasie freien Lauf zu lassen. Doch wenn die reale Welt scheiße ist und einem nichts zu bieten hat, dann lässt die Fantasie einen nicht mehr fortgehen. Schlimmer noch, sie dehnt sich aus und man verliert sich vollends darin.
Meine Reisen ins Fantasiereich geschahen immer öfter, spontan, an allen Orten. Arbeit, Treffen mit Freunden. Ich konnte es nicht mehr steuern. Die Tagträume wurden auch zusehends länger und intensiver. Ich wollte nicht mehr zurück. Und eines Tages wusste ich manchmal nicht, was real und was Fantasie war. Bis man mich verwirrt und desorientiert am Bahnhof fand. Hysterisch erzählte ich der Polizei, ich hätte meine Kinder am Bahnhof verloren und man solle meinen Mann anrufen. Nachdem die Polizei einige Telefonanrufe tätigte, endete meine Geschichte, indem mir ein Arzt Spritzen injizierte und mich psychologischen Tests unterzog. Jetzt geht es mir aber besser. Ich habe ein süßes kleines Zimmer und muss mich um nichts mehr kümmern. Mein Essen wird gekocht und meine Wäsche gewaschen. Es kommen auch täglich nette Menschen vorbei, um sich mit mir zu unterhalten. Die Tabletten, die sie mir geben, stören mich nicht im Geringsten. Sie halten mich in der realen Welt und das ist auch gut so.
Nur meine Kinder, die sich mit mir das Zimmer teilen, finden es selbstverständlich fies und gemein. Ich lächle nur, so sind Kinder eben.