Merle Sternwender
Rock me Amadeus
Sandrine fährt mit dem Mofa mitten durch die Fußgängerzone. Es ist ihr egal, dass das verboten ist. Soll sie doch ruhig jemand anzeigen.
Sie wirft das Zweirad achtlos vor den Eingang der Stadtbibliothek. Ihr einst so geliebtes Mofa hat keinen Wert mehr für sie. Sie muss nur noch das Buch, das sie sich ausgeliehen hat, zurückbringen. Denn Ordnung muss sein.
Sandrine befühlt mit der Zunge ihren Backenzahn. Sie war beim Zahnarzt gewesen, um sich mal wieder eine Füllung verpassen zu lassen. Wie immer ohne Betäubung. Diesen Schmerz kennt sie, er macht ihr keine Angst.
Als sie die Bücherei betritt, fällt ihr als Erstes die lange Schlange vor der Rückgabe auf. Scheinbar ist sie nicht die Einzige, deren Ausleihfrist vor den Feiertagen endet. Um sich die Zeit zu vertreiben, greift sie zu einem der Flyer, die in der Bücherei ausliegen. Die Broschüre verweist auf die Aktion „Bäume für Menschenrechte“, die in wenigen Wochen stattfinden soll. Sandrine faltet das orangefarbene Blatt auseinander. Ihr Blick bleibt bei Artikel 3 hängen – „Das Recht auf Leben“. Sandrine lacht höhnisch auf. Es ist ihr egal, dass einige Schlange Stehende sie irritiert ansehen.
„Das Recht auf Leben. Was für ein Leben? Was bedeutet das? Leben?“, fragt sich Sandrine. Sie wüsste es gern selbst, zum wievielten Mal. „Es bedeutet doch nicht, dass wir leben, nur weil wir atmen!“
Mit diesem Gedanken im Kopf verlässt Sandrine hastig die Bücherei. Den Flyer hat sie auf den Boden fallen lassen. Genau wie das Buch, das sie abgeben wollte.
Sie hebt das Mofa vom Betonboden auf und fährt los.
Sie würde gern wissen, wann die Sache mit dem Nichts angefangen hat oder besser gesagt warum. Auf einmal scheint da nichts zu sein, wo vorher doch etwas gewesen sein musste. Wenn sie von der Schule nach Hause kommt, verspürt sie keinen Hunger. Damit sich die Mutter keine Sorgen macht, würgt sie das Essen dennoch herunter. Die einst geliebten Spagetti Bolognese schmecken fade, wollen nur widerwillig die Speiseröhre hinunterrutschen, egal, mit wie viel Wasser Sandrine nachspült. Es scheint ihr, als wolle das einstige Schmankerl in ihrem Hals stecken bleiben, es droht, sie zu ersticken. Das Haus, ihr eigenes Elternhaus, kommt ihr mit einem Mal bedrohlich vor. Der blank gescheuerte Linoleumboden macht ihr Angst, genau wie die mit Chlor gebleichten Gardinen, deren glattgebügelte Akkuratheit urplötzlich Unbehagen in ihr verursacht. Das Alpenveilchen, das auf der Fensterbank steht, wirkt genauso leblos wie die Vorhänge. Mit einem Mal hasst sie diese Pflanze, ihren Duft sowie den Geruch von Sauberkeit, der aus den Gardinen zu strömen scheint. Alles in diesem Haus ist blitzeblank geschrubbt, gewienert, gebohnert und erfüllt klaglos seinen Zweck.
Im Sportunterricht vor ein paar Wochen sagte die Lehrerin, dass der Mensch nur ein Zuhause habe – seinen eigenen Körper und ermahnte die Mädchen, deshalb gut auf diesen Acht zu geben. Sandrines schrilles Auflachen brachte ihr einen verwunderten Blick der Pädagogin ein.
Sie empfindet diesen Körper nicht als Zuhause, sondern als Gefängnis, eine Mauer, die sie einsperrt – genau wie die Mauern ihres Elternhauses. Ihr Körper ist nichts wert, er ist ein Nichts, genau wie sie, obwohl ihr Körper für so viel Geld erschaffen worden war.
Sandrine weiß seit Jahren, dass sie ein sogenanntes „Designer Baby“ war; das Produkt einer Gentechnik-Firma made in America. Aus einem von der Reproduktionsklinik erstellten Katalog wählten die Eltern die Merkmale aus, die ihr Kind haben sollte: groß, blond, blauäugig, sportlich und hochmusikalisch. Vermutlich stellten sich die Eltern eine Art Mucki-Mozart vor, als sie die Eigenschaften ihres Kindes zusammenstellten, als sei dieses Baby kein Mensch, sondern ein Regal, ein Möbelstück mit eingebautem Taktstock. Rock me Amadeus.
Die Eltern sagten es ihr, als sie zwölf geworden war. Man habe ihr die blauen Augen des Großvaters geben wollen sowie dessen Neigung zu Musik und Sport. Er sei nicht nur ein Ausnahmemusiker gewesen, sondern auch ein hervorragender Ruderer.
„Warum bin ich dann kein Junge?“, hatte Sandrine gefragt.
„Weil im Labor ein Fehler gemacht wurde“, entgegnete die Mutter und versicherte ihr, dass sie genauso geliebt werde, wie sie sei. Dabei hatte sie ihre Zähne entblößt, die Sandrine in jenem Augenblick vorkamen, wie die Zähne eines Alligators. Allerdings ließen Raubtiere vermutlich keine Bleachings machen.
„Nichts“, hatte Sandrine heute Morgen auf die Frage des Vaters geantwortet, was mit ihr los sei, als sie grußlos an ihm vorbei zur Garderobe eilte. Bevor sie das Haus verließ, überlegte sie für einen Moment, ob sie sich ihm anvertrauen sollte – ihm erzählen, dass sie sich fühlte, als ob die Wände des Hauses, das er so liebte, sie erschlugen. Dass sie das Essen hasste, dass die Mutter für sie zubereitete, obwohl sie es früher so gemocht hatte. Für einen Augenblick, da wollte sie beichten, wie es tatsächlich in ihr aussah, sie wollte gestehen, dass sie frei sein wollte. Frei! Frei von den ewigen Klavierstunden, frei vom Leistungsdruck im Schwimmverein. Sie wollte ihm gestehen, dass sie all das verabscheute. Genau wie die blauen Augen, die sie jeden Morgen im Spiegel anstarren. Die Augen des Großvaters, die sie täglich daran erinnern, dass sie kein Genie ist wie er, kein Mucki-Mozart. Sie hatte dem Vater ins Gesicht schreien wollen, dass die Eltern die 250.000 Dollar besser in einen Sportwagen investiert hätten. Bei einem Cabrio waren wenigstens keine Irrtümer beim Geschlecht möglich.
Sandrine verbietet sich, weiter über ihr „Leben“ nachzudenken; das Dasein eines künstlich erschaffenen Menschen, die Existenz einer Menschmaschine, die trotz hochpreisigem Design nicht so funktioniert, wie es sich deren Macher erdacht hatten.
Sie ermahnt sich, sich auf den Verkehr zu konzentrieren und drückt aufs Gaspedal.
Die nächste S-Bahn kommt in sechs Minuten.
Sie muss sich beeilen, wenn sie es noch rechtzeitig vor die Gleise schaffen will.