Marion Teiwes
Der geheime Traum
Horst lässt sich auf den Autositz fallen und startet entschlossen den Motor. Die Kollegen gehen noch ein Bier trinken. Doch er will heute keinen mehr sehen. Lou, die Azubine, ist krank. Sie wäre ein Lichtblick gewesen, während die Männer über Solaranlagen fachsimpeln.
15 Minuten Fahrt stadteinwärts. Noch zweimal rechts abbiegen, dann parkt er den T5 auf dem Firmengelände von Dachtechnik Wegner. Es regnet. Horst schlägt den Kragen hoch und geht brummig los.
Fünf Jahre arbeitet er schon für Wegner als Dachdecker. Das Geschäft blüht und sein Verdienst stimmt. Mancher wäre mehr als zufrieden mit dieser Arbeitsstelle. Doch Horst kann diesem soliden Leben nichts mehr abgewinnen. Es bedeutet ihm nichts. Sicher, in 20 Jahren würde er an Gebäuden vorbeigehen und sagen: „Daran habe ich mitgebaut.“ Doch diese Aussicht erfüllt ihn nicht mehr. Immer öfter hängt er seinen heimlichen Träumen nach.
Auf der Königstraße bleibt er abrupt vor einem Schaufenster stehen. Ein Plakat mit gelben und blauen Booten fasziniert ihn. Ein Mann ist damit beschäftigt, eines der Boote anzustreichen. Die Boote liegen aufgereiht am Strand. Unter dem Bild ist zu lesen: „Venezuelas Küste gehört heute zur Karibik. Auf der früheren Pirateninsel Margarita lebt man noch immer vom Fischfang.“
Horst betritt den Laden. Er fragt nach dem Bild im Fenster und erhält einen Reiseführer. Noch im Gehen liest er. Der Regen ist stärker geworden. Egal. Bei der Arbeit auf dem Dach hat er ja auch keinen Schirm. Im Bistro Bosporus findet er Unterschlupf. Der türkische Mokka duftet. Horst entflieht völlig dem Tassengeklapper um sich herum und taucht ein in Venezuelas Welt. Mit mehr als 1.000 Flüssen zählt Venezuela zu den wasserreichsten Ländern der Erde. Wer von der Cordillera de Mérida hinunter zum Maracaibo-See fährt, erlebt innerhalb von drei Stunden Autofahrt drei Jahreszeiten. Auf den Gipfeln des 5.000 Meter hohen Pico Bolivar herrschen Temperaturen um den Gefrierpunkt, am Fuße der Berge angenehme 15 bis 20 Grad. Am See dagegen freut man sich, wenn das Quecksilber 32° nicht übersteigt.
Horst kehrt kurz in die Wirklichkeit des Cafés zurück, trinkt seinen jetzt kalten Mokka und liest weiter. Regensaison ist von Mai bis Oktober. Selbst in Venezuela kommt man ohne Regen nicht aus. Aber was heißt das schon? Er wird im Boot sitzen und fischen. Sicher lässt sich der Regen bei über 20° gut ertragen.
Plötzlich zuckt Horst heftig zusammen. Bei seinen Schwärmereien für Fischfang und Sonne hatte er das Wichtigste vergessen! Laura, seine Frau! Fast sieben Jahre Ehe. Bei aller Liebe – Laura auf einem Fischkutter in der Karibik? Sie fühlt sich in Duisburg zu Hause. Trotz aller Unzufriedenheit liebt Horst seine Laura. Wie wird sie auf seine heimlichen Wünsche reagieren? Oh Mann! Er wird ohne sie gehen müssen. Aber Laura sagen, dass er gehen will, um seinen Traum zu leben? Lieber nicht! Wie ein Dieb in der Nacht verschwinden? Es geht wohl nicht anders. Doch ohne ein Wort? Er wird Laura einen Brief schreiben. In der Jackentasche findet er einen Kuli. „Ihr Otto vom Lotto.“ Also, das geht gar nicht! Mit solch einem Werbekuli kann Horst den Abschiedsbrief an Laura nicht verfassen. So stillos? Nein, er will den Brief auf ordentlichem Papier mit Tinte an einem ordentlichen Ort schreiben. Nicht hier. Er tritt raus in den Regen und überquert die Straße.
Ein bekanntes Schreibwaren-Fachgeschäft erstreckt sich über drei Etagen und ist gut besucht. Eindrucksvolle Schreibgeräte in den Vitrinen. Er entdeckt ein besonderes Stück einer bekannten Marke in bordeauxrot. Ja! Der soll es sein. Er lässt sich die edle Errungenschaft einpacken. „Eine gute Wahl“, sagt die Verkäuferin, „damit werden Sie ganz sicher Freude bereiten.“ „Was soll´s“, denkt Horst. Schweigend steckt er den Füller ein und geht weiter. Jetzt noch ein gutes Papier. Soll es weiß und nobel sein? Etwa 160 g Bütten? Lieber farbig? Ein Abschiedsbrief auf blauem oder rosa Papier? Besser nicht. Stöbernd sucht er weiter.
In der gedämpften Geräuschkulisse nimmt er plötzlich eine vertraute Stimme wahr. Erst traut er seinen Ohren nicht. Die Frau dort vorne, die gerade eine Aktenmappe aussucht – das ist ja Laura! Diese glasklare, sanfte Altstimme gehört zweifelsfrei ihr. Verdeckt durch ein Regal neigt er seinen Kopf in Richtung der Ladentheke. Sie spricht mit dem Berater. „Ein ganz besonderer Anlass. Mein Mann und ich haben am Samstag Hochzeitstag. Das Geschenk ist nicht wirklich die Mappe.“
Horst wird es flau im Magen. Er fürchtet, die Beine könnten ihm wegknicken, als er von seinem Beobachtungsposten aus hört, was Laura erzählt: „Ich habe eine Kreuzfahrt durchs Karibische Meer gebucht. Das wünscht sich mein Mann schon lange. Einmal soll er sich beim Anblick von Venezuela wie Christoph Kolumbus fühlen! Dazu palmengesäumte Strände. Man lebt dort oft heute noch vom Fischfang.“
Horst bleibt die Spucke weg. Soll er noch schnell klammheimlich abhauen? „Die Reiseunterlagen lege ich in die Mappe. Wähle ich dazu die in Lila oder die elegante schwarze?“
Das ist endgültig zu viel für Horst. Woher weiß Laura von seiner Sehnsucht nach Venezuela und der Karibik? Bis vor zwei Stunden hat er es ja selbst nicht einmal richtig gewusst. Im Spiegel gegenüber sieht er sein kreideweißes Gesicht. Er hört nicht mehr zu. Tief bewegt verharrt er neben dem Ladenregal. „Horst! Was machst du denn hier?“ Nach einer Schrecksekunde nimmt Laura kommentarlos seinen Arm und verlässt mit ihm das Geschäft. Zwischen eilenden Menschen gehen sie die Straße entlang. Horst hält den Regenschirm. Wie in Zeitlupe erwacht er wieder zum Leben. Bewundernd schaut er Laura von der Seite an. Wie schön und liebenswert sie ist! Seine Laura!
Ahnte sie etwas, seine empfindsame, wunderbare Frau? Wollte er sie eben wirklich noch verlassen, um heimlich nach Südamerika zu verschwinden? Zu seinem Glück fehlt ihm nur noch ein Geschenk für Laura zum Hochzeitstag. Obwohl – seine Hand in der Jackentasche befühlt das kleine Päckchen. Es enthält einen wirklich schicken Füller.