Latte
Macchiato
Die
Väter
Man nennt mich „Latte“, aber das auch erst
seit dem Gymnasium. Früher nannten sie mich „Kakao“, während Jusuf „Schoko“ war.
„Latte“ nennt man mich auch nur, weil meine Mama, anders als Jusufs Mutter, eben
blass und blond ist. Meinen Erzeuger habe ich nie kennengelernt, Mama hat mal
was von einem Musiker erzählt, aber wer weiß das schon.
Jedenfalls war mein Erscheinen wohl ein
ordentlicher Skandal im Ort, aber da die Auswahl hier eher übersichtlich und Mama
wirklich hübsch ist und sie sich als Bürokraft beim örtlichen Autohändler auch einen
guten Überblick über mögliche Kandidaten verschaffen konnte, haben wir dann
doch noch einen abgekriegt: Viktor.
Viktor war das ganze Gegenteil eines
dunkelhäutigen Musikers, blond, groß, schlaksig, Beamter, bieder und trotzdem
bereit, neben meiner Mama auch ihr kleines braunes Anhängsel zu akzeptieren.
Sie haben geheiratet, als ich in der Grundschule gerade zu
„Kakao“ wurde und ein Jahr nach der Hochzeit kam meine Schwester, die sie
unbedingt „Luna“ nennen mussten, auf die Welt – seither teilt sich das Kind den
Namen mit diversen Hundedamen. Zwei weitere Jahre später erschien dann der
Zwerg auf der Bildfläche, um diesmal nichts falsch zu machen, nannten sie ihn „Sven“.
Mit Svens Geburt zogen wir dann in Viktors
Elternhaus, also eigentlich in sein Mutterhaus, denn sein Vater war schon vor
Jahren gestorben, und seine Mutter hatten wir gleich mit zu übernehmen. Die
vergaß mit unserem Einzug wer wir waren, mit Beginn des Umbaus vergaß sie, wo
sie war und schließlich auch noch wer sie war. Wie Mama das alles auf die Reihe
gekriegt hat, ist mir schlicht ein Rätsel: Als der Zwerg krabbeln konnte,
vergaß Viktors Mutter auch zu essen und selbst aufs Klo zu gehen; am Esstisch
saßen nun Sven in seinem Kindersitz auf der einen Seite und Viktors Mutter auf
der anderen und beide wurden von Mama gefüttert, danach gewickelt und schlafen
gelegt. Irgendwann vergaß Viktors Mutter dann auch das Atmen und da konnte auch
Mama ihr nicht mehr helfen.
Eigentlich hätte nun alles friedlich
werden können, aber das wurde es nicht. Der Umbau war gerade fertig, der Zwerg noch
im Kindergarten und Luna ein Schulkind, Mama arbeitete wieder halbtags beim
Autodealer, als selbst mir auffiel, dass der örtliche Fahrer für
Tiefkühlprodukte noch immer „auf einen Kaffee“ vorbeikam, obgleich Mama mit
Fertigstellung der Küche geschworen hatte, fortan nur noch „frisch“ zu kochen. Wir
versuchten das nicht zu thematisieren, aber Mama war nicht ganz so schlau.
Jedenfalls wurde an einem bestimmten Abend
der „Familienrat“ einberufen – zu allen anderen Gelegenheiten ein pädagogischer
Spießrutenlauf, in dem wir Nachkommen unsere aktuellen Sünden, Irrungen und
Wirrungen coram publico gestehen und uns dem vereinten Urteilsspruch der
Familie auszusetzen hatten. Wir ahnten Schlimmes, ohne Konkretes zu wissen. Als
wir alle um den Esstisch versammelt waren – Mama hatte offensichtlich geweint –
klingelte es, der Tiefkühlproduktefahrer stand verlegen vor der Tür und setzte
sich sodann zu uns. Viktor runzelte die Stirn.
Nun begann Mamas Geständnis und damit eine
Geschichte, bei deren Verfilmung ich mit einem „Ach Nö“ vermutlich das Programm
gewechselt hätte. Wie Mama berichtete, sei ihr am Tag ihrer Hochzeit von ihrer
zwischenzeitlich verstorbenen Schwiegermutter eröffnet worden, dass Viktors
Vater an einer unheilbaren, aber dominant vererblichen Krankheit verstorben
sei. Viktor räusperte sich verwundert, wurde aber mit einer Handbewegung Mamas
zum Schweigen gebracht.
Da damit das Risiko, dass nicht nur Viktor
selbst diese Krankheit habe, sondern diese auch an gemeinsame Kinder
weitergeben könne, nicht von der Hand zu weisen, andererseits aber die Erweiterung
der Familie um weitere Kinder beschlossene Sache gewesen sei, habe Mama für
Luna und Sven eben einen anderen Erzeuger gesucht. Diesen habe sie in der
Person des örtlichen Autohändlers, ihres Arbeitgebers, auch gefunden, habe der
doch gemeinsam mit seiner Gattin bereits zwei durchaus ansehnliche Kinder
produziert.
Viktor schnappte nach Luft.
Nun gäbe es aber schon länger Stress mit
dem Autohändler, da dessen Ehe in einer Krise stecke und er nun seinen „Vaterpflichten“
bei Luna und Sven nachkommen wolle. Solchermaßen gestresst und auch weil sie
auch nicht alle ihre Kinder mit Unwahrheiten über ihre Väter aufwachsen lassen
wolle (in diesem Moment begrub ich gedanklich den „Musiker“), habe sie sich dem
Tiefkühlproduktefahrer Karsten anvertraut und diesen nun auch lieben gelernt. Deshalb
wollten Karsten und sie künftig zusammenleben.
Viktor hatte auf diese Weise also gerade
von der Möglichkeit seiner unheilbaren Krankheit, vom biologischen Vater seiner
Kinder und von den Zukunftsplänen seiner Frau mit Karsten erfahren. Nie wieder würde
ich mich über den pädagogischen Spießrutenlauf „Familienrat“ beschweren, im
Vergleich zu Viktor war ich bis dahin doch immer ganz gut bei weggekommen.
Um es kurz zu machen: Wenige Wochen später
lagen die Befunde vor – Viktor war tatsächlich Träger einer Erkrankung, die ihn
langsam aber sicher bewegungsunfähig machen würde, bis zuletzt auch seine
Organe versagten. Mama und Karsten wollten ihn jedoch nicht „im Stich“ lassen,
daher zog Karsten bei uns ein. Der Autohändler suchte den Kontakt zu Sven und
Luna, die nun mit ihm, Viktor und Karsten gleich drei Väter zu verkraften
hatten.
Als Viktor schon im Rollstuhl saß und von
uns gefüttert werden musste, kam meine Schwester Viktoria auf die Welt und
verbrachte in ihren ersten Lebensmonaten viel Zeit in ihrer Wiege neben Viktors
mittlerweile unbeweglichem Schoß. So haben wir die beiden dann auch gefunden:
Vicky sabbernd, strahlend und strampelnd – Viktor für immer leise lächelnd.
Im Senegal sagt man, dass man für die
Erziehung eines Kindes ein ganzes Dorf braucht. Vielleicht wären wir auch mit
etwas weniger Beteiligung ausgekommen, aber seit Viktor nicht mehr da ist, weiß
ich, wie sehr er uns fehlt und wie gut es war, dass sie alle da waren: Die
Väter meiner Geschwister.