Kerstin
Werner
Wir
sind niemals allein
Fröstelnd
stehe ich am Bahnsteig und blicke dem abfahrenden Zug hinterher, bis ich seine
Rücklichter nicht mehr sehen kann. Eigentlich wollte ich mitfahren und Ruben
auf seinem Weg zum Krankenhaus begleiten, doch er bat mich inständig darum, ich
solle zu Hause bleiben und ihn auch nicht während seines vierwöchigen Klinikaufenthaltes
besuchen kommen. Er möchte nicht, dass ich ihn während der Chemotherapie in
seinem Elend sehen muss und verbot mir sogar, ihn anzurufen; sein Handy hatte
er nicht einmal mitgenommen, sondern in seiner Schreibtischschublade
eingeschlossen.
Wir
kennen uns nun schon drei Jahre, leben aber erst seit fünf Monaten zusammen.
Doch kaum waren wir in unsere neue Dreiraumwohnung eingezogen, begann Ruben
ständig zu husten und war so erschöpft, dass er abends schon zeitig ins Bett
fiel. Wir dachten uns nichts dabei, vermutlich nur eine Erkältung, die er sich
beim Umzug geholt hatte. Ich war mir sicher, dass sie bald vergehen würde, denn
Ruben war selten krank gewesen. Doch nach einigen Wochen wurde der Husten
schlimmer und begann weh zu tun. Ruben bekam Fieber und ich musste ihn lange
überreden, bis er schließlich zum Arzt ging. Dieser stellte fest, dass die Lunge
sich entzündet hatte und verschrieb ihm ein Antibiotikum. Doch der Husten ließ
nicht nach und schmerzte stärker als zuvor; das Einzige, was verschwand, war
das Fieber. Der Arzt überwies ihn zum Radiologen, um eine Computertomographie vorzunehmen.
Jetzt wurde ich unsicher, denn nichts war mehr wie vorher. Wenn er mit mir
sprach, spürte ich, wie sehr ihm das Atmen schwerfiel; er wirkte müde und
kraftlos und hatte in den letzten Wochen deutlich an Gewicht verloren, so dass ich
bei seinem Anblick innerlich erschrak und gewaltige Angst bekam. Was war mit
Ruben geschehen? Warum wollte der Husten nicht aufhören? Warum?
Zeitnah
bekam er einen Termin zur Computertomographie – und bald darauf erhielten wir
die erschreckende Diagnose: Lungenkrebs.
„Wie
ist das möglich?“, war mein erster Gedanke. „Ruben ist erst zweiunddreißig Jahre
alt und hat nur im Jugendalter stark geraucht, doch seit wir uns kennen, hat er
mir zuliebe keine einzige Zigarette mehr angerührt.“
Gedankenversunken
verlasse ich den Bahnsteig und beschließe, den weiten Weg zu Fuß nach Hause zu
laufen. Ich zittere am ganzen Körper und mir ist auf einmal übel. Hätte ich
mich stärker durchsetzen müssen? Wie konnte ich ihn in diesem Zustand allein
fahren lassen? Wenn ihm unterwegs etwas passiert, was dann? Warum will er mich von
all seinem Leid verschonen, wo er doch weiß, dass es auch mein Leid ist? Wie
soll ich die vier Wochen durchhalten, ohne auch nur ein Wort mit ihm zu
sprechen? Begreift er denn nicht, dass mich dieser Zustand mehr belasten wird,
als wenn ich ihn jederzeit anrufen und besuchen könnte? Andererseits versuche
ich, seine Entscheidung zu akzeptieren. Ruben fährt in eine anthroposophische
Klinik, die er sich bewusst ausgesucht hat, und dieser Gedanke beruhigt mich
ein wenig. Ich glaube, dort wird er gut aufgehoben sein.
Auf
meinem Weg durch den weitläufigen Park begegne ich einer Mutter, die ihr Kind
in einem Rollstuhl vor sich herschiebt. Das Gesicht des Kindes ist ganz schmal
und blass unter der blauen Trikotmütze, und ich frage mich, woran es wohl
erkrankt ist. Gern würde ich die Mutter fragen, aber das traue ich mich nicht.
Ich grüße sie freundlich und lächele dem Kind zu. Für einen kurzen Moment spüre
ich, dass es mein Lächeln erwidern möchte, aber es scheint nicht die nötige
Kraft dafür aufbringen zu können. Dann nickt die Mutter mir zu, streichelt ihrem
Kind über die Wange und läuft wortlos an mir vorbei. „Sie ist bestimmt eine
starke Frau“, denke ich. „Sie hat ihr Leben ganz auf ihr krankes Kind
eingestellt und ihre mütterliche Liebe gibt ihr die nötige Kraft dazu.“ Mit
diesen Gedanken laufe ich heim. Egal, was noch alles auf Ruben zukommen wird,
ich werde ihn niemals allein lassen.
In
der Nacht finde ich nur wenig Schlaf und als ich am nächsten Morgen aufwache,
ist mir so übel, dass ich mich übergeben muss. Was ist nur los mit mir? Schon
allein bei dem Gedanken an die bevorstehende Chemotherapie, die Ruben heute
über sich ergehen lassen muss, hebt sich mir schon wieder der Magen. Ich
versuche mich abzulenken, doch egal, was ich tue, ich fühle mich in meiner Haut
nicht wohl. Erst am Abend, als ich beim Yoga ein deutliches Ziehen in der Brust
spüre und mir bewusst wird, dass seit drei Wochen meine Periode ausgeblieben
ist, ahne ich plötzlich, dass ich schwanger sein könnte. Mir wird schwindelig
und mein Herz beginnt zu rasen. Ruben hatte sich schon immer ein Kind
gewünscht, nur ich fühlte mich noch nicht reif dazu.
Eine
Woche später erhalte ich von meiner Frauenärztin die Gewissheit, dass ich mich
in der sechsten Schwangerschaftswoche befinde und das Herz des Embryos bereits
begonnen hat zu schlagen. Ich kann es kaum fassen. Gerade jetzt, wo Ruben um
sein Leben kämpft, wächst in mir ein neues heran. Am liebsten möchte ich ihn
sofort anrufen.
Doch
in den darauffolgenden Tagen muss ich mich so häufig übergeben, dass meine
Frauenärztin mich in die Klinik überweist. „Wenn der Magen nichts mehr annimmt,
dann wird es gefährlich für das Kind“, sagt sie. In der Klinik bekomme ich mehrere
Glucose-Infusionen, und ich spüre, wie die Übelkeit allmählich nachlässt und
mein Körper sich nicht mehr so ausgehöhlt anfühlt. Nach fünf Tagen innerer Ruhe
werde ich wieder entlassen. Wir haben es geschafft!
Erleichtert
atme ich auf. Jetzt hält mich nichts mehr davon ab, Ruben im Krankenhaus zu
besuchen. Als ich im Zug sitze, wird mir so froh und wehmütig ums Herz, dass ich
weinen muss. Eine ältere Frau, die mir allein im Abteil gegenübersitzt, schaut
mich mitfühlend und vertrauensvoll an. „Sie haben großen Kummer, nicht wahr?“,
sagt sie. Ich nicke. Und während ich ihr von Ruben und unserem Baby erzähle,
verschwinden meine letzten Zweifel, mich endlich auf den Weg gemacht zu haben. Was
auch immer geschehen mag, wir werden niemals allein sein.